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«Solange privatrechtliche Pensionskassen Deckungsgrade von 100 Prozent und mehr ausweisen, wird kaum ein Politiker vorpreschen, um eine Kürzung der Renten zu propagieren»

Freitag, 30.11.2012

Pensionskassen müssten den Kapitaltransfer von den Aktiven zu den Rentnern sowie die Risiken der Aktiven ausweisen. Damit nähme der Druck auf die Politik zu, Rentenkürzungen zu enttabuisieren, erklärt Alfred Bühler von PPCmetrics gegenüber vorsorgeexperten.ch.

Herr Bühler, Sie haben kürzlich in Zusammenhang mit Vorsorgeeinrichtungen geäussert, wie wichtig es sei, dass Risikoträger ihre potentielle Belastung kennen würden. Wer sind diese Risikoträger und welche Risiken sind damit gemeint?

Bevor wir auf diese Risiken eingehen, sollte man die Frage aufwerfen, weshalb es überhaupt Kennzahlen braucht. Daran schliesst sich die Frage an, wozu es Unternehmensbilanzen und Jahresrechnungen gibt. Ein wichtiger Grund ist sicherlich, dass Personen, die etwas von einer Institution zugute haben, wissen wollen, wie sicher dieses Guthaben ist und ob das Geld, das sie der Unternehmung zur Erbringung von Leistungen zur Verfügung gestellt haben, gut angelegt ist. Das gilt auch für Pensionskassen, wo Bilanz und Deckungsgrad Auskunft über die Sicherheit der Leistungen geben. Risikoträger sind also jene Personen, die Leistungen zugute haben (Arbeitnehmer) oder zu zusätzlichen Beiträgen verpflichtet werden können (Arbeitgeber). Da Leistungen auch Kürzungen erfahren könnten, sollten Risikoträger wissen, wie hoch das Potenzial bzw. Risiko ist, dass diese Leistungen tatsächlich gekürzt werden. Diese Information erhalten sie durch die Kennzahl des risikotragenden Deckungsgrades.

Man spricht allgemein eher vom technischen oder vom ökonomischen Deckungsgrad. Sie sprechen vom risikotragenden Deckungsgrad – welcher Deckungsgrad sagt was aus?

Wie ein Deckungsgrad bestimmt werden muss, ist in der Verordnung über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge BVV 2 festgelegt. Damit hat eine Vereinheitlichung stattgefunden. Nach dieser Berechnungsmethode wird – vereinfacht gesagt – das vorhandene Vermögen durch das notwendige Vorsorgekapital dividiert. Sowohl der technische als auch der ökonomische Deckungsgrad werden nach Art. 44 BVV2 bestimmt und sind somit gesetzliche Deckungsgrade. Der ökonomische Deckungsgrad ist ein Äquivalent des technischen Deckungsgrades, wird aber mit ökonomischen Parametern bestimmt, also garantierte Leistungen werden mit einem risikolosen Zinssatz diskontiert oder unter Einbezug einer Generationentafel ermittelt. Diese Tafeln berücksichtigen auch die zukünftige Lebenserwartung eines Versicherten.

Wie unterscheidet sich der risikotragende Deckungsgrad dazu?

Der risikotragende Deckungsgrad ist kein gesetzlicher Deckungsgrad gemäss Art. 44 BVV2. Man darf also nicht nur diesen Deckungsgrad in einer Jahresrechnung ausweisen.

Wieso propagieren Sie dann die Ausweisung des risikotragenden Deckungsgrades?

Das hängt mit den Entwicklungen im Vorsorgebereich zusammen. Immer mehr Vorsorgeeinrichtungen sind Rentner lastig. Das kann sich aus Teilliquidationen ergeben, wo Teile des dazugehörenden Unternehmens verkauft wurden, oder aus Entlassungen bei einem Unternehmen. Zurück bleiben die Rentner und ein paar wenige Aktive. Der kleinere Anteil an Aktiven muss dann die Risiken tragen. Bei Sanierungen stellt man aber vielleicht fest, dass sie die Risiken der Gesamtkasse gar nicht tragen können, da man dazu beispielsweise Sanierungsbeiträge in Höhe von 20 oder 30 Prozent ihres Lohnes einfordern müsste. Um solche Situationen zu verhindern, braucht es eine Kennzahl, die Probleme frühzeitig aufzeigt.

Haben Versicherte keine andere Möglichkeit sich zu informieren, etwa mittels Geschäftsbericht der Pensionskasse?

Verfügt eine versicherte Person nicht über spezifisches Finanz-Knowhow, kann sie die Finanzierungssituation ihrer Pensionskasse nicht selbst anhand der Zahlen im Geschäftsbericht ausrechnen. Sie kann sich also auch kein adäquates Bild von den Risiken machen.

Was bedeutet das für diese Person?

Vielleicht möchte sich jemand in die Pensionskasse eines neuen Arbeitgebers einkaufen oder sonst eine Einlage tätigen. Diese Person muss sich fragen, wie sicher ihr Geld angelegt ist. Schlimmstenfalls erfolgt kurz darauf eine Teilliquidation. Im Fall von einer Unterdeckung gemäss Art. 44 BVV2 würden von den vielleicht 100‘000 Franken, die sie eingezahlt hat, unter Umständen 20‘000 Franken wegfallen. Das ist von Gesetzes wegen erlaubt.

Versicherte haben im Fall einer Sanierung also keine Möglichkeit, die erworbenen Leistungen zu schützen.

Eine Pensionskasse, die in Unterdeckung ist, darf den Fehlbetrag an das austretende Kollektiv anteilsmässig weitergeben. Dahinter steht die Idee, dass der verbleibende Versichertenbestand nicht benachteiligt wird. Die Realität ist allerdings eine andere. Die Leistungskürzungen, welche an die Austretenden weitergegeben werden, reichen in der Regel nicht aus, um den verbleibenden Versichertenbestand fair oder gleich zu behandeln. Grund sind die Rentenverpflichtungen, die oft zurückbleiben und deren Bewertung technisch und nicht zum Marktwert erfolgt.

Was heisst die Rentenverpflichtungen entsprechen nicht dem Marktwert?

Die technische Bewertung von Rentenverpflichtungen geht davon aus, dass die Leistungen – bei einem Deckungsgrad von 100 Prozent – im Erwartungswert finanziert sind. Der technische Zinssatz wird so festgelegt, dass er der erwarteten Vermögensrendite theoretisch entspricht. Diese erwarteten Renditen treffen aber nur mit 50 Prozent Wahrscheinlichkeit ein. Die 50 Prozent Risiko, wonach die Vermögensrenditen tiefer ausfallen, tragen die verbleibenden aktiven Versicherten, da die Rentner von diesen Risiken ausgenommen sind. Da die Rentner in der Liquidationsbilanz eben nicht so bewertet sind, wie ihre Guthaben mit einem risikolosen Zinssatz garantiert sind, wird der Deckungsgrad zu hoch ausgewiesen. Dadurch ist die Kürzung für die Austretenden zu gering. Ein Grossteil dieser ökonomischen Deckungslücke verbleibt somit beim zurückbleibenden Bestand.

Wieso tragen die Rentner die Risiken nicht mit?

Das wurde in der ersten Revision des Bundesgesetzes über die berufliche Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenvorsorge (BVG) gesetzlich verankert. Mit dieser Revision wurden auch die Sanierungsmassnahmen für Pensionskassen gesetzlich festgelegt. Die Garantie der laufenden Renten wurde per 1. Januar 2005 in Kraft gesetzt. Danach darf eine bei Pensionierung gesprochene Rente nicht gekürzt werden. Einzige Ausnahme sind laufende Renten, die in den letzten 10 Jahren freiwillig erhöht wurden. Diese freiwillige Erhöhung darf man zurücknehmen. Da aber kaum noch eine Kasse in den vergangenen 10 Jahren Renten freiwillig erhöht hat, ist das wohl eine eher theoretische Ausnahme.

Vor 2005 gab es also keine Rentengarantie.

Zuvor wurde darüber diskutiert, ob die Rente ein wohlerworbenes Recht sei oder nicht. Als man die Rente dann garantierte, war man sich der Problematik von Teilliquidationen und den Risikotransfers in rentnerlastigen Vorsorgeeinrichtungen sicherlich nicht bewusst. Dasselbe gilt für Unterdeckungen. Das Gesetz sah eine Unterdeckung ursprünglich gar nicht vor. Nach 9/11 und dem Platzen der Internetblase gerieten ab 2002 aber immer mehr Kassen in Unterdeckung. Mit der Gesetzesanpassung zu den Sanierungsmassnahmen, wonach eine vorübergehende Unterdeckung zulässig ist, wurde das Gesetz der Realität angepasst. Die Kombination aus möglichen Unterdeckungen, garantierten hohen Renten und dezentraler Organisation der 2. Säule, wonach es ganz unterschiedliche Kassen gibt und die Bestände von einer Kasse auf eine andere übergehen können, ist jedoch bei tiefen Zinsen problematisch.

Was genau wird beim risikotragenden Deckungsgrad ermittelt?

Wie erwähnt, geht es um die Belastung der Risikoträger. Dazu muss man die Verpflichtungen, die garantiert sind, entsprechend mit risikolosen Zinssätzen bewerten. Man bestimmt also das ökonomische Vorsorgekapital. Zieht man dieses Vorsorgekapital für die Renten vom Gesamtkapital ab, zeigt sich, was für die Aktiven übrig bleibt. Das verbleibende Vermögen Aktive wird dann ins Verhältnis zu den Guthaben der Aktiven gesetzt, was den risikotragenden Deckungsgrad ergibt. Sind beispielsweise noch 50 Millionen Franken für die Aktiven übrig, die Guthaben der Aktiven betragen aber 100 Millionen Franken, liegt der risikotragende Deckungsgrad bei 50 Prozent. Es gibt aber auch Kassen, bei denen das gesamte in der Kasse vorhandene Vermögen nicht ausreicht, um die Renten zu garantieren. In solchen Fällen ist der risikotragende Deckungsgrad negativ.

Bei der Berechnung des technischen und des ökonomischen Deckungsgrades wird das Vorsorgekapital für die Rentner also nicht gesondert betrachtet.

Das Kapital der Rentner und das der Aktiven werden einzeln bestimmt aber zusammen betrachtet. Es werden garantierte und nicht garantierte Leistungen in denselben Topf geworfen. Dazu ein einfaches Beispiel: Für die Rentner muss man den hinterlegten technischen Zinssatz plus zusätzliche Kosten für die Lebenserwartung erwirtschaften. Zahlt man den Rentnern beispielsweise 4% Zins, erwirtschaftet auf dem Vermögen aber nur eine Rendite von 2%, bleibt für die Aktiven – bei einem Kapitalanteil von 50 Prozent – 0 Prozent Vermögensertrag übrig. Liegt der Anteil der Guthaben der Aktiven bei nur 20%, so resultiert in diesem Beispiel ein Vermögensverlust für die Aktiven von -6%.

Wie fallen die Freizügigkeitsgelder da ins Gewicht?

Die Freizügigkeitsgelder sind die Guthaben der Aktiven. Diese sind gesetzlich garantiert, wobei die erwähnte Kürzungsmöglichkeit bei einer Teilliquidation besteht. Bei der Ermittlung des risikotragenden Deckungsgrades wird nur die minimale Garantie der Freizügigkeitsgelder einbezogen. Garantien oder Leistungsversprechen gegenüber den aktiven Versicherten, wie z.B. Besitzstandgarantien oder Umwandlungssätze, sind nicht berücksichtigt.

Allfällige Risiken für die Versicherten werden nun also ersichtlich.

Weist eine Pensionskasse einen technischen Deckungsgrad von 100 Prozent aus, kann ein Versicherter daraus nicht ersehen, ob dies für ihn Probleme birgt. Anhand des risikotragenden Deckungsgrades werden diese Risiken jedoch sichtbar. Diese Kennzahl hilft auch zu erkennen, ob eine bevorstehende Teilliquidation problematisch ist, auf was es zu achten gilt und wann Sanierungsmassnahmen notwendig werden. Nehmen wir das Beispiel einer Pensionskasse, deren technischer Deckungsgrad bei 100 Prozent liegt. In einer Teilliquidation werden 90 Prozent der Aktiven ausgegliedert. Aufgrund der offenbar genügenden Deckungssituation werden die Freizügigkeitsleistungen vollumfänglich ausgezahlt. Danach ist der Deckungsgrad immer noch bei 100 Prozent. Nehmen wir weiter an, dass die Renten zu einem technischen Zinssatz von 3.5 Prozent bilanziert sind. Unter Einbezug der zunehmenden Lebenserwartung muss auf dem Vermögen dieser Rentner eine Rendite von 4% erwirtschaftet werden. Liegt der Vermögensertrag nur bei 2%, fällt der Deckungsgrad bereits im ersten Jahr nach der Teilliquidation auf 98 Prozent, da der Rentneranteil so gross ist und man die 4% Rendite nicht erwirtschaften konnte. Hinzu kommen stark negative Cashflows, da für die Renten weiterhin Geld zu 100 Prozent Deckung aus der Kasse abfliesst. Ist der Deckungsgrad erst mal negativ, wird er somit durch den Mittelabfluss noch negativer. Obwohl der ausgewiesene technische Deckungsgrad nach der Teilliquidation bei 100 Prozent lag, war die Kasse ökonomisch betrachtet bereits nicht mehr mit vertretbaren Risiken sanierbar.

Kassenverantwortliche erhalten somit auch ein Führungsinstrument.

Gerade bei Rentner lastigen Kassen werden Sanierungsmassnahmen oftmals zu spät ergriffen. Da noch ein hoher technischer Zinssatz angewendet wird, ist auch die Sollrendite hoch. Man will den technischen Zinssatz aber nicht senken, da die ausgewiesene Unterdeckung damit noch grösser würde. Kassen mit genügend Geld tun es aber, weshalb zwischen jungen und Rentner lastigen Kassen sowie zwischen reichen und armen Kassen ein zunehmendes Ungleichgewicht entsteht.

Schreckt diese plötzliche Transparenz Pensionskassenverantwortliche nicht auch ab?

Stellt man die tatsächliche Lage von Pensionskassen transparent dar, könnte das durchaus zu Fragen nach dem Sinn und Zweck der 2. Säule führen. Ein Argument könnte sein, dass das Kapitaldeckungsverfahren nicht funktioniert. Dieses Argument ist aber nicht stichhaltig: Problematisch sind die zu hohen garantierten Leitungsversprechen und nicht das Kapitaldeckungsverfahren. Verzichtet man aber auf die Transparenz, verschiebt man die Probleme damit lediglich in die Zukunft, statt heute nach Lösungen zu suchen. Man muss sich zudem bewusst sein, dass das Zinsniveau, das für die schlechten Renditeaussichten auf den Vorsorgevermögen mitverantwortlich ist, weitere zehn Jahre tief bleiben könnte. Nach rund zehn Jahren Zinsrückgang stellt man vielleicht heute schon fest, dass es für kosmetische Massnahmen zu spät ist. Hätte man den technischen Zins analog zum fallenden Zinsniveau kontinuierlich gesenkt, wäre man dieser Situation vielleicht entgangen.

Eine Senkung des technischen Zinssatzes zieht aber auch eine Senkung des Umwandlungssatzes nach sich. Wie wir wissen, hat sich das Stimmvolk klar dagegen ausgesprochen.

Es sind letztlich nicht viele Pensionskassen, die an den BVG-Mindestumwandlungssatz gebunden sind. Gerade grössere Kassen, die auch das Überobligatorium versichern, müssen nur auf einem Teil bzw. auf dem Obligatorium den vorgeschriebenen BVG-Umwandlungssatz zahlen. Diese Freiheit haben viele Pensionskassen seit längerem und nutzen sie, um die Umwandlungssätze zu senken. Doch das Problem liegt viel tiefer. Solange privatrechtliche Pensionskassen künstlich zu hoch ausgewiesene Deckungsgrade von 100 Prozent und mehr ausweisen, was etliche Studien belegen, wird kaum ein Politiker vorpreschen, um die Möglichkeit der Kürzung der Renten zu propagieren.

Wie sollten sich Pensionskassen und die Politik also verhalten?

Pensionskassen müssten als erstes die Transfers sowie die Risiken richtig darstellen. Dadurch würde allenfalls Druck auf die Politik ausgeübt, etwas zu unternehmen, also auch Rentenkürzungen in schwierigen Situationen zu ermöglichen. Dies natürlich so sozialverträglich wie möglich. Dadurch würden vielleicht auch die Gewerkschaften sensibilisiert und mehr darauf achten, dass ihre eigene Klientel besser geschützt wird.

Wären Rentenkürzungen bei der Wählerschaft wohl durchsetzbar?

Gerade die heute 50-Jährigen sind von dieser Entwicklung am meisten betroffen. Bis zu ihrer Pensionierung erhalten sie auf ihren Altersguthaben unter Umständen nur noch eine verminderte Verzinsung. Auch könnten die Umwandlungssätze in dieser Zeit weiter sinken und im Worst Case wird dann in zehn Jahren die Möglichkeit zur Kürzung von Renten eingeführt. Sie trifft die Belastung durch die Rentner besonders hart. Die Problematik hier liegt allerdings in der Kommunikation.

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