Sie befinden sich hier: Startseite » Aktuelle Themen » Artikel

«Das bestehende Pensionskassensystem birgt viel Verbesserungspotential»

Montag, 31.01.2011

Ob zementierter Umwandlungssatz, Benutzung des Deckungsgrades als Steuerungsgrösse oder uneinheitliche Festlegung des technischen Zinssatzes – im Gespräch mit vorsorgeexperten.ch zeigt Prof. Dr. Kerstin Windhövel Lösungsansätze für eine verbesserte zukunftsgerichtete Steuerung von Pensionskassen auf.

Frau Windhövel, worin sehen Sie die grössten zukünftigen Herausforderungen für das Pensionskassensystem in der Schweiz?

Alle grösseren Volkswirtschaften in Europa stehen vor den gleichen Herausforderungen. Überall in ganz Europa besteht derselbe Trend zu einer alternden Bevölkerung. Dies bedeutet, dass die sog. Geburtenrate, das ist die Anzahl lebend geborener Kinder pro Frau, schon seit Jahrzehnten das zur reinen Erhaltung des Bestandes eines Volkes notwendige Niveau von 2,1 unterschreitet. Wir haben aber nicht nur eine wachsende Zahl älterer Menschen. Die Lebenserwartung dieser Menschen steigt zudem kontinuierlich an. Diese an sich sehr erfreuliche Entwicklung stellt Rentenversicherungssysteme, die im Umlageverfahren finanziert sind – bei uns also die AHV – vor einschneidende Probleme. Da in einem Umlageverfahren Zahlungen der Erwerbstätigen bis auf eine kleinere Rücklage direkt an die Leistungsempfängerinnen und -empfänger ausbezahlt werden, machen sich demografische Verschiebungen hier schnell bemerkbar. Eine schrumpfende Anzahl an Einzahlern steht einer stets steigenden Anzahl an Leistungsempfängern gegenüber. Dies führt unweigerlich entweder zu Beitragserhöhungen oder zu Rentenkürzungen.

Damit sprechen Sie vor allem Probleme in der ersten Säule an. Existieren diese in der zweiten Säule nicht?

In kapitalgedeckten Systemen wie der zweiten Säule müssen demografische Verschiebungen nicht zwingend zu Problemen führen, da die Geldmittel hier nicht an Mitglieder verschiedener Generationen ausgezahlt werden, sondern für den Versicherten selbst angespart werden. Allerdings gibt es auch innerhalb der zweiten Säule Umverteilungsmechanismen, sog. Solidaritäten, die zum heutigen Zeitpunkt leider als höchst intransparent bezeichnet werden müssen. Die Versicherten werden nicht befragt, inwiefern sie diese Solidaritäten bzw. Umverteilungen tatsächlich wünschen. Starre Reglemente und Vorgaben wie der Mindestumwandlungssatz, die die demografischen Veränderungen nur unzureichend berücksichtigen, können auch in einem kapitalgedeckten System wie der zweiten Säule zu finanziellen Engpässen führen.

Warum werden die nötigen Anpassungen nicht vorgenommen?

Derartige Anpassungen würden klar auf eine Reduktion der Leistungen hinauslaufen. Dies ist wenig populär. Der politisch festgelegte Mindestumwandlungssatz ist aus heutiger Sicht und im Hinblick auf zukünftig zu erwartende demografische Entwicklungen zu hoch und führt zu einer kontinuierlichen Vermögensumverteilung von den Einzahlenden zu den Rentenempfängern. Auch diese Hürde wäre noch teilweise umschiffbar, wenn – wie in den guten Börsenjahren – der Kapitalmarkt diese wachsende Finanzierungslücke schliessen kann. Nach der dotcom-Blase und der Finanzkrise sind jedoch Zweifel angebracht, ob dies auch weiterhin möglich ist.

Das bedeutet, dass es nicht nur um die demografische Entwicklung, sondern auch um die nötige Kapitalmarktrendite geht.

Das ist richtig. Ein längerfristiges Ausbleiben der finanziellen Zuzahlungen des sog. „dritten Beitragszahlers“, also des Kapitalmarktes, verschärft die Situation zunehmend. Gleichbleibende Leistungsversprechen, die sich z.B. in einem aus finanzmathematischer Sicht zu hoch festgesetzten Mindestumwandlungssatz manifestieren, müssen dann auch in einem kapitalgedeckten System vermehrt vom ersten und zweiten Beitragszahler, also den Arbeitgebern und den Arbeitnehmern finanziert werden. Die Alternative wäre auch hier die unbeliebte Reduktion der Leistungszusagen, also eine Verringerung des Mindestumwandlungssatzes.

Welchen Einfluss hätten diese Massnahmen auf den Deckungsgrad der Pensionskassen?

Sowohl Beitragssatzerhöhung als auch Leistungskürzungen würden den Deckungsgrad einer Pensionskasse mittel- bis langfristig erhöhen. Dies ergibt sich ganz klar aus der gesetzlich festgelegten Berechnung des Deckungsgrades.

Wie wird der Deckungsgrad heute berechnet?

Ursprünglich war die Berechnung des Deckungsgrades im BVG nicht klar definiert. Durch die Aufnahme der klaren Bestimmungen zur Ermittlung einer Unterdeckung wurde im Jahr 2005 in Art 44 BVV2 eine klare Definition der Berechnungsmodalitäten des Deckungsgrades gesetzlich verankert. Der Deckungsgrad ist demnach das Verhältnis des Vorsorgevermögens zum versicherungstechnisch notwendigen Vorsorgekapital. Zur Berechnung des Deckungsgrades wird also das Total der versicherungstechnischen Verpflichtungen einer Pensionskasse den verfügbaren Aktiva zum gleichen Stichtag gegenübergestellt. Während die zukünftigen Verpflichtungen einer Pensionskasse jedoch mit dem technischen Zinssatz abgezinst werden, werden die Aktiva zu heutigen Marktpreisen bewertet. Hier sieht man, dass Äpfel mit Birnen verglichen werden.

Und wer bestimmt den technischen Zinssatz?

Der technische Zinssatz kann von jeder Pensionskasse in einem Intervall zwischen 3,5% und 4,5% selbstständig festgelegt werden. Man muss kein Mathematiker sein, um sofort zu erkennen, dass über derartig lange Zeiträume selbst kleinste Veränderungen in der Festlegung des technischen Zinssatzes eine massive Veränderung des Deckungsgrades bedeuten. Man geht davon aus, dass eine Veränderung des technischen Zinssatzes um 1% den Deckungsgrad um etwa 10% verändern. Daher ist der Deckungsgrad verschiedener Kassen weder direkt vergleichbar, noch als Messgrösse oder gar Steuergrösse geeignet.

Warum ist die Orientierung am Deckungsgrad dennoch so stark?

Dies liegt an den gesetzlichen Vorgaben. Als Beweis, dass keine Unterdeckung bzw. keine finanziellen Engpässe vorliegen, müssen die Pensionskassen den Deckungsgrad in regelmässigen Abständen für die Aufsichtsbehörde berechnen. Sollte der Deckungsgrad unter 90% gefallen sein, sind Sanierungsmassnahmen vorzuschlagen und ebenfalls bei der Aufsicht einzureichen. Deshalb schaut jeder auf den Deckungsgrad. Die Frage ist nur, ob der Deckungsgrad auch wirklich die richtige Grösse ist, um eine Pensionskasse zukunftsgerichtet und unternehmerisch zu steuern. Meine Antwort darauf lautet ganz klar nein.

Was sagt die Wissenschaft zu anderen Berechnungsarten für den Deckungsgrad?

In der wissenschaftlichen Diskussion gibt es heute vor allem eine andere Art, den Deckungsgrad zu berechnen, den sog. „ökonomischen Deckungsgrad“. Hier wird ein risikoloser Marktzins anstatt des technischen Zinssatzes unterstellt, was einer Anlage in Staatspapieren entspricht. Dieser Zinssatz ist in der Schweiz sehr tief. Dies bedeutet, dass die zukünftigen Verpflichtungen einer Pensionskasse mit 2,0% bis 2,5% abgezinst werden müssten und nicht wie heute mit 3,5% und mehr. Machen wir ein einfaches Rechenbeispiel: Sie zinsen den Betrag von 1 Million Franken über 25 Jahre mit einem Zinssatz von 4,5% pro Jahr ab. Dann stehen Ihnen zum Tag X Verbindlichkeiten von gut 331‘000 Franken in den Büchern. Zinsen Sie den gleichen Betrag ebenfalls über 25 Jahre mit einem Zinssatz von nur 2,5% ab, stehen Ihnen heute Verbindlichkeiten von knapp 545‘000 Franken in den Büchern. Das ist gut das 1,6-fache. Der Deckungsgrad vieler Pensionskassen würde zum heutigen Zeitpunkt bei Verwendung des ökonomischen Deckungsgrades mit tiefen risikolosen Zinssätzen so einige Prozentpunkte tiefer ausfallen. Allerdings stellt sich auch hier die Frage, ob ein ökonomischer Deckungsgrad tatsächlich eine zukunftsgerichtete Steuergrösse ist und damit besser geeignet als der heute verwendete Deckungsgrad.

Inwieweit spielen der obligatorische und der überobligatorische Teil eine Rolle für den Deckungsgrad?

Zu den sicher zu erbringenden Leistungen einer Pensionskasse gehört alles, was von den Versicherten im obligatorischen Teil angespart wurde, sowie Leistungen, die individuell durch das Reglement einer Pensionskasse garantiert werden müssen. Leistungen aus dem überobligatorischen Bereich verzinsen viele Pensionskassen heute oftmals zu 0%. Die Renditen, die im überobligatorischen Teil erwirtschaftet werden, werden umverteilt, um die Gesamtrendite für den obligatorischen Teil zu garantieren und damit die durch den Mindestumwandlungssatz festgelegten Leistungszusagen der Zukunft zu finanzieren. Somit wird der obligatorische Teil durch den überobligatorischen Teil quersubventioniert. Würden die im überobligatorischen Bereich erwirtschafteten Mittel dort verbleiben und die heutige Umverteilung entfallen, entstünden im überobligatorischen Bereich jedoch auch höhere Rentenansprüche.

Arbeitet die Forschung denn heute an besseren, zukunftsgerichteten Steuergrössen für Pensionskassen?

Durchaus. Eine zukunftsgerichtete Steuerung mit dem Deckungsgrad ist nicht möglich. Dies entspricht dem Fahren eines Autos mit verhängter Windschutzscheibe und mit Blick in den Rückspiegel. Das kann nicht gut gehen. Um den Forderungen einer unternehmerischen Steuerung nach dem BVV gerecht zu werden, braucht es ein stimmiges unternehmerisches Betriebsführungskonzept, das zukunftsgerichtet ist. In der unternehmerischen Welt gibt es ein sehr bekanntes, die Balanced Scorecard. Sie beschreibt ein Konzept zur zukunftsgerichteten Steuerung der Aktivitäten eines Unternehmens bzw. einer Organisation im Hinblick auf ihre Strategie und ihre Ziele. Dazu werden Zukunftsindikatoren wie künftige Kosten- und Einnahmeentwicklung und künftige Verpflichtungen verwendet. Aber auch innovative Kriterien wie Solidaritäten und Gerechtigkeit können hier berücksichtigt werden. Muss eine Pensionskasse beispielsweise saniert werden, muss auch ersichtlich werden, wer dafür wie viel bezahlt. Wenn ein Versicherter künftig also auf 0,5% Rendite verzichten soll, muss er wissen, was mit diesem Geld geschieht. Weitere wichtige Kennzahlen sind etwa die Mitarbeiter- und die Kundenzufriedenheit. Ein zufriedener Kunde erträgt sicherlich manches besser als ein unzufriedener, und ein zufriedener Mitarbeitender ist Voraussetzung für das zukünftige Funktionieren seines Unternehmens.

Nun kann der Kunde seine Pensionskasse ja nicht frei wählen. Wie soll die Kundenzufriedenheit also gemessen werden?

Die Kunden sollten von ihren Pensionskassen befragt werden. Nur so kann eine Pensionskasse erfahren, wo in der Zusammenarbeit mit ihren Kunden Verbesserungspotentiale liegen. Nichtsdestotrotz kann man nicht nur diesen Indikator als zukunftsgerichtete Kennzahl wählen. Im Laufe der Entwicklung zukunftsgerichteter Kennzahlen muss man auch den Fragen einer Neugestaltung und Optimierung von Geschäftsprozessen nachgehen. Abläufe in einem bestehenden System müssen spätestens dann als überholt angesehen werden, wenn viele Destinatäre damit unzufrieden sind.

Wie kann das Pensionskassensystem also verbessert werden?

Es bedarf vor allem einer zukunftsgerichteten Steuerung. So kann kein Unternehmen langfristig überleben, ohne eine Cash-Flow Vorschau zu machen und seine Einnahmen und Ausgaben über das heute hinaus zu prognostizieren. Ist diese Hürde erst einmal genommen und richten sich alle schweizerischen Pensionskassen an Zukunftsindikatoren mit einer klaren Strategie und klaren Zielen aus, kann über weitere Fragestellungen nachgedacht werden. So etwa, ob es richtig ist, dass der Versicherte wirklich Geld und nicht Aktiva beim Kassenwechsel mitnehmen muss, ob er seinen Anlage-Mix nicht bis zu einem gewissen Grad selbst bestimmen oder gar seine Pensionskasse frei wählen können sollte.

Daran dürften Pensionskassen kaum interessiert sein, weil das für sie noch mehr Einschränkungen bringen könnte. Wie sie sagen, behindere sie schon die steigende Fluktuationsrate der Arbeitnehmenden, die den Arbeitgeber und damit im Allgemeinen auch die Kasse wechseln.

Das sehe ich völlig anders. Ich wage sogar die Behauptung, dass eine freie Pensionskassenwahl zu weniger häufigen Wechseln führen würde als dies heute der Fall ist. Heute wechselt ein Arbeitnehmer in der Schweiz gemäss statistischem Durchschnitt alle drei Jahre den Arbeitgeber. Die Zeiten langjähriger Dauerbeschäftigung bei stets dem gleichen Unternehmen sind überholt. Bei jedem Wechsel nimmt der Versicherte sein Vorsorgekapital mit. Das bedeutet, dass die PK alle drei Jahre Aktiva für diese Versicherten bereitstellen und das Geld auf ein Freizügigkeits- oder sein neues Konto bei seiner neuen PK überweisen muss. Der Arbeitnehmer muss seine Kasse verlassen und zu der seines neuen Arbeitgebers wechseln, auch wenn die neue Kasse vielleicht viel schlechter dasteht als seine alte. Ist er jedoch bei einer Pensionskasse die gut wirtschaftet, sieht er wahrscheinlich davon ab und bleibt bei derselben Vorsorgeeinrichtung. Die Wechselhäufigkeit muss also nicht zwingend grösser werden. Sie kann auch kleiner werden, nämlich dann, wenn die Kundenzufriedenheit hoch ist.

Damit würde das Problem für Kassen, die in Schieflage sind, natürlich noch grösser.

Das ist richtig. Nun muss eine freie Wählbarkeit der Pensionskasse nicht gleich der erste Schritt zur Verbesserung des Pensionskassensystems sein. Schon der Umstand, dass ein Versicherter nicht mehr sein Kapital ausbezahlt bekäme, sondern beim Wechsel des Arbeitgebers seine Aktiva mitnehmen könnte, wäre eine Verbesserung. Das würde bedeuten, dass man beim Wechsel der Vorsorgeeinrichtung sein Wertschriftenportfolio erhält und dieses auf die nächste Kasse übertragen kann. Damit würde der dauernde Ankauf und Verkauf von Wertschriften, der je nach Marktlage zu Verlusten führen kann, entfallen.

Dann müsste jede Kasse ein Unmass an Aktiva bewirtschaften, womit sie völlig überfordert wäre.

Das wäre sie auch, ausser, man würde diese Aktiva auf eine gewisse Anzahl an Produkten, die von geeigneten Institutionen zertifiziert worden wären, beschränken. Das könnten Fonds sein, an denen der Versicherte Anteile erwirbt, mit denen er unterschiedlich hohe Risiken eingeht. Das würde dem Versicherten zum ersten einen grösseren Spielraum in der Wahl seiner persönlichen Risikostruktur gewähren, als ihn auch zum zweiten als aktiven Entscheider für seine zukünftigen Leistungen aus der zweiten Säule einbeziehen. Würden zertifizierte Fonds eingeführt, hätte der Versicherte beispielsweise fünf Anteile von Produkt 10, fünf Anteile von Produkt 15 und zehn Anteile von Produkt 20 wenn er die Pensionskasse verlässt. Diese Anteile würde er mit zu seiner neuen Pensionskasse nehmen, die dieselben Fonds anbietet, was bedeutet, dass sie die Produkte 10, 15 und 20 dann nicht mehr 3024, sondern vielleicht 3044 Mal verwaltet.

Wie sollten solche Produkte zertifiziert werden, zumal die Einschätzung hierzu sicherlich sehr unterschiedlich ausfallen kann?

Dafür kann man einheitliche Lösungen finden, die für alle akzeptabel sind und durch die Aufsichtsbehörde abgesegnet werden. Ein Rating von Finanzprodukten gibt es schon heute. Es müsste weiter entwickelt werden. Dies ist nicht unmöglich!

Um mit einem solchen System starten zu können, müsste man erst eine gemeinsame Plattform schaffen. Wie leicht würde das sein?

Nicht ganz einfach, aber durchaus machbar. Wenn Pensionskassen gegenseitig übereinkommen, welche Produkte sie von einer jeweils anderen übernehmen wollen, könnte eine solche Plattform quasi „von innen heraus“ entstehen. Es wird mit Sicherheit auch heute bereits Anlageprodukte geben, die von vielen Kassen gehalten werden, so dass nicht jede neu ins Portfolio hinzukommende Aktie die einzige ihrer Art sein wird. Ein solches Vorgehen setzt in einem nächsten Schritt jedoch voraus, dass man sich sowohl über die akzeptierten zu transferierenden Produkte, als auch über die Regeln der Übertragbarkeit genau verständigen muss.

Twitterdel.icio.usgoogle.comLinkaARENAlive.comMister Wong
Copyright © 2011-2024 vorsorgeexperten.ch. Alle Rechte vorbehalten.