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Grossbritannien verlässt die Europäische Union – Die Wirtschaft leidet

Freitag, 24.06.2016

Premierminister David Cameron tritt zurück

Die Briten haben entschieden die EU zu verlassen. Das bringt politische und wirtschaftliche Verwerfungen mit sich. Der Brexit tangiert auch die Schweizer Wirtschaft; Experten rechnen mit einer Verschlechterung der Wachstumsaussichten.

Die Bevölkerung des Vereinigten Königreichs hat am 23. Juni 2016 in einem Referendum entschieden, aus der Europäischen Union austreten zu wollen. Dies dürfte negative wirtschaftliche Auswirkungen auf das Vereinigte Königreich, Europa und die Schweiz haben und die politische Unsicherheit erhöhen.

Finanzmärkte reagieren stark auf das Votum

Das britische Pfund wertete seit dem Vorabend gegenüber dem US-Dollar um bis zu 10% auf den niedrigsten Stand seit 30 Jahren ab. Auch gegenüber dem sich ebenfalls abschwächenden Euro verlor das Pfund um bis zu 7%. Der Schweizer Franken, eine traditionelle Fluchtwährung während finanzieller Turbulenzen, wertete gegenüber dem Pfund um zeitweise 10% auf; gegenüber dem Euro waren es rund 2%. Der Franken lag am 24. Juni bei einem Kurs von 1.08 Euro. Andere traditionelle Fluchtwährungen, etwa der japanische Yen und der US-Dollar, werteten deutlich stärker auf als der Franken. Dies dürfte der Intervention der Schweizerischen Nationalbank (SNB) am Markt geschuldet sein. Der Goldpreis legte um 5% zu; die die Rendite zehnjähriger US-amerikanischer Staatsanleihen fiel um einen Viertel Prozentpunkt auf 1.4%. Die Börse in Japan brach im Verlauf des Handelstages um 8% ein und die Börsen in Europa öffneten zu Handelsbeginn mit Rückgängen von teilweise mehr als 10%.

EU fürchtet einen „Domino“-Effekt

Schwierig einzuschätzen sind die politischen Auswirkungen eines Austritts auf die EU. «Es ist möglich, dass der Brexit weitere Austritte nach sich zieht und die übrig gebliebenen Länder sich daraufhin politisch umso mehr integrieren», kommentieren die Ökonomen der Konjunkturforschungsstelle KOF das Ereignis. Besonders prominent sind Forderungen nach einem Austrittsreferendum in Frankreich, Dänemark und der Tschechischen Republik. Die mehrheitliche Ablehnung des Brexit durch die Schotten und Nordiren dürfte auch im Vereinigten Königreich Unabhängigkeitsbestrebungen neu aufleben lassen.

Unsicherheit über Grossbritanniens künftigen Status wird Investitionen dämpfen

Grossbritannien hat nach dem Brexit gemäss EU-Vertrag zwei Jahre Zeit, die Abspaltung von der EU zu organisieren. «Zwei Jahre, um 40 Jahre Mitgliedschaft zurückzudrehen, die sämtliche Aspekte der britischen Wirtschaft, Politik und Gesellschaft betreffen – von Milchpreisen über Umwelt- und Verbraucherschutz bis hin zu Aufenthaltsrechten sowie Produktions- und Exportbedingungen», kommentiert BAKBASEL.

Der britische Premierminister Cameron hat per Oktober seinen Rücktritt bekannt gegeben und für den Herbst 2016 Neuwahlen angekündigt. Wann die Verhandlungen mit der EU gestartet werden, und wie lange es tatsächlich bis zum Vollzug des Austritts dauert, ist indessen unklar. Die nun folgenden Verhandlungen zwischen dem Vereinigtem Königreich und der EU über ein neues Rahmenwerk können sich mehrere Jahre hinziehen, da es keine genauen Abläufe und Präzedenzfälle für das Ausscheiden eines Landes aus der EU gibt.

GB muss neue Form der Handelsintegration finden

Während auf der einen Seite das Herauslösen aus der EU im Sinne einer institutionellen Entflechtung ansteht, muss auf der anderen Seite eine neue Form der Handelsintegration gefunden werden (Freihandelsabkommen, Bilaterale Verträge, EWR/EFTA). Dabei stehen weder die Richtung, noch der Zeitraum oder das Ergebnis fest. «Sicher ist jedoch, dass die Unsicherheiten über die zukünftige Zusammenarbeit die konjunkturelle Dynamik und Investitionen dämpfen werden», sind die Ökonomen von BAKBASEL überzeugt.

Die Schweiz als Nicht-EU-Mitglied könnte dagegen relativ schnell ein neues Freihandelsabkommen mit dem Vereinigten Königreich schliessen, unabhängig davon, ob in den Austrittsverhandlungen ein Handelsabkommen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zustande kommt. Die KOF-Ökonomen werten dies als Chance für die Schweiz.

Die Teuerung in GB dürfte ansteigen, die Nachfrage sinken

Aufgrund der Abwertung des Pfunds dürfte die Teuerung auf der Insel signifikant ansteigen; BAKBASEL schliesst auch eine Rezession in den kommenden Quartalen nicht aus. Auch im Euroraum dürfte die Wirtschaft leiden; sowohl die Abwertung des Pfunds als auch die politische Unsicherheit werden die Importnachfrage des Vereinigten Königreichs dämpfen.

Wirtschaftswachstum in der Eurozone dürfte sich verlangsamen

Darunter leiden vor allem die Länder, für die die Exporte in das Vereinigte Königreich besonders wichtig sind, nämlich Irland, die Niederlande, Belgien, aber auch Deutschland und Frankreich. Der Brexit dürfte zu einer Stimmungseintrübung im Euroraum führen. Dies und die erhöhte politische Unsicherheit über die zukünftige Ausgestaltung der Europäischen Union werden die Konjunktur und dabei insbesondere die Investitionstätigkeit belasten, sind sich auch die KOF-Ökonomen sicher.

Schweizer Exportindustrie wird in Mitleidenschaft gezogen

Das schwächere Pfund und die erwartete konjunkturelle Abkühlung im Vereinigten Königreich dürften auch negative Auswirkungen auf die Schweizer Exportindustrie haben, fürchtet die KOF. Mit einem Anteil von 5.8% an den Schweizer Gesamtexporten ist das Vereinigte Königreich die fünftwichtigste Exportdestination der Schweiz. Pharmaprodukte, welche relativ wenig konjunkturreagibel sind, sowie Uhren und Präzisionsinstrumente stellen den grössten Anteil an den Schweizer Güterexporten in das Vereinigte Königreich. Da 8.5% der ausländischen Logiernächte in der Schweiz von britischen Touristen kommen, dürften sich auch negative Folgen für die alpinen Tourismusregionen in der Schweiz ergeben.

Aufwertungsdruck auf den Schweizer Franken steigt

Der Schweizerfranken – wie bereits vor der Abstimmung – wird als sicherer Hafen wieder attraktiver, was den Aufwertungsdruck erhöht, warnen die KOF-Ökonomen. Wie stark die Aufwertung sein wird, hängt neben der Stärke der Fluchtbewegung auch davon ab, ob – und, wenn ja wie stark – sich die Nationalbank dagegen stemmen wird. So könnte sie den Schweizer Franken durch Interventionen direkt am Devisenmarkt schwächen oder aber die Zinsen senken. Darunter würden allerdings Investoren leiden, allen voran die Pensionskassen.

Schweizer Wirtschaft leidet unter dem hohen Frankenkurs

Selbst eine nur vorübergehende Aufwertung des Frankens könnte der Schweizer Wirtschaft dauerhafte Schäden zufügen, fürchtet BAKBASEL, insbesondere der Exportindustrie, die bereits unter hohem Druck steht. Auch wenn die SNB dagegenhalten wird, um in den ersten Tagen und Wochen allzu grosse spekulative Ausschläge abzufedern, bleibt offen, wie lange sie das tun kann. «Einem länger währenden Aufwertungsdruck bei anhaltenden Unsicherheiten wird sich die SNB angesichts ihrer bereits sehr grossen Bilanzsumme kaum entgegenstellen können», so das Fazit von BAKBASEL. Die Ökonomen sehen deshalb die grösste Gefahr für die Schweizer Wirtschaft im Aufwertungsdruck auf den Franken, zumal dieser über Monate oder Jahre anhalten könnte.

Europäische Bankenplätze werden aufwerten

Viele Banken dürften im Nachgang zum Brexit zumindest Teile ihres Geschäfts auf den europäischen Kontinent verlagern. Dies stärkt nach Ansicht von BAKBASEL primär den Finanzplatz Frankfurt und auch andere Euro-Finanzmärkte. Aber auch die Schweiz könnte vom Einfluss- und Ansehensverlust des Londoner Finanzplatzes profitieren.

Schweizer Verhandlungsspielraum mit der EU ist begrenzt

Weit komplexer sind die Auswirkungen des Brexit auf die anstehenden Verhandlungen der Schweiz und der EU über die Vereinbarkeit von Personenfreizügigkeitsabkommen und Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative. Zum einen könnte sich der Verhandlungsbeginn verzögern. Zum anderen wird der EU nun viel daran liegen, zu signalisieren, dass sich Separatlösungen nicht lohnen, um so den Anreiz für weitere Austritte zu reduzieren.

Die KOF erachtet es daher als gut möglich, dass die EU in den Neuverhandlungen zur zukünftigen Beziehung mit dem Vereinigten Königreich eine harte Linie verfolgen wird. Dies würde sie der Kohärenz wegen dann auch in den Verhandlungen mit der Schweiz tun. Da die Schweiz weniger Verhandlungsmacht als das Vereinigte Königreich mitbringt, würde sie in diesem Szenario wohl ein noch schlechteres Verhandlungsergebnis erzielen als das Vereinigte Königreich.

Bei einer wesentlich längerfristigen Sichtweise besteht gemäss BAKBASEL jedoch auch die Chance, dass sich durch die Britischen Verhandlungen über die künftige Ausgestaltung ihrer Zuwanderungsregelungen inhaltlich noch neue Perspektiven im Sinne der Schweiz ergeben.

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