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«Es gibt viel nachzuholen, da das Versicherungsvertragsgesetz über 100 Jahre lang nicht angepasst worden ist»

Freitag, 30.03.2012

Die Totalrevision des VVG bietet Stoff für viele Kontroversen. Jede Interessengruppe hat ihre Prioritäten – und die sind unterschiedlich, wie Thomas Brotzer von Ernst & Young Schweiz gegenüber vorsorgeexperten.ch erklärt. Einen Konsens zu finden ist eine Jahrhundertübung.

Herr Brotzer, das rund 100 Jahre alte Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, kurz VVG, wird gegenwärtig revidiert. Was war ausschlaggebend für die Totalrevision?

Jedes Gesetz muss von Zeit zu Zeit revidiert werden, da sich die Realität laufend ändert. Vor 100 Jahren waren erste Telefone zwar schon erfunden worden, vom Computer sprach aber noch niemand. Auch der Umgang mit den Kunden war ganz anders. Einziger Vertriebskanal der Versicherungsgesellschaften war das eigene Agenturnetz. Die Kunden zahlten das Geld für eine Versicherungspolice noch im Kassenhäuschen der jeweiligen Versicherungsgesellschaft ein. Seit Einführung des Geldwäschereigesetzes nimmt heute keine Gesellschaft mehr Bargeld entgegen. Zahlungen erfolgen über den Banken- und Postkanal. Auch der Servicegedanke am Kunden ist ein anderer. Wer heute ein Auto kauft, erhält gleichzeitig auch die Zulassung und die Versicherung. Hätte man  lediglich eine Teilrevision angeregt, wären viele Aspekte vergessen gegangen. Dennoch ist die Totalrevision ein mutiger Schritt, weil sie viele Probleme adressiert und Kernelemente ändern will. Sie wird von den betroffenen Interessengruppierungen deshalb breit diskutiert. Die Totalrevision des VVG ist eine Jahrhundertübung.

Was genau regelt das Versicherungsvertragsgesetz?

Das VVG regelt die vertragliche Grundlage bzw. das vertragliche Verhältnis zwischen Versicherungsnehmer und Versicherungsgesellschaft. Es ist Vertragsrecht, wie das Obligationenrecht auch. Das OR wurde ebenfalls vor rund 100 Jahren eingeführt, ist inzwischen aber schon viele Male revidiert worden.

Haben die Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union für einmal also keinen Einfluss auf das Revisionsvorhaben dieses Gesetzes?

Die EU hat nicht direkt Einfluss auf das Revisionsvorhaben, wenngleich EU-Recht für die einzelnen Änderungspunkte sicherlich Hilfestellung liefern kann. Werden heute nämlich Gesetzesänderungen diskutiert, orientiert man sich auch am EU-Recht. Aktuelles Beispiel ist der Konsumentenschutz im Garantiebereich, die so genannte Gewährleistungshaftung, die erst kürzlich von einem auf zwei Jahre verlängert worden ist und das Obligationenrecht betrifft. In der EU sind zwei Jahre eine Mindestanforderung.

Welches sind die Kernpunkte des Revisionsvorhabens?

Neben Grundlegendem, etwa wie Prämien kalkuliert werden oder die Schadensdeckung aussieht, regelt das VVG weitere Elemente. Dazu zählen Informations- und Aufklärungspflichten ebenso wie die Entschädigung von Maklern oder von vorgelagerten Vertriebskanälen und vieles mehr. Das VVG enthält viele zwingende Normen. Im vorliegenden Entwurf ist die Anzahl zwingender Normen massiv erhöht worden, womit die bis anhin geltende Vertragsfreiheit und die Individualisierung in vielen Punkten weiter reduziert wird.

Nun wird der Konsumentenschutz bei gesetzlichen Revisionen gerne vorgekehrt. Gibt es noch andere Ziele, die der Gesetzgeber mit dieser Totalrevision verfolgt?

Der Konsumentenschutz ist sehr vielschichtig. Man kann die einzelnen Elemente, die er umfasst, aber aufbrechen. Ein wichtiges Element ist das Verhältnis des Versicherungsnehmers zur Versicherungsgesellschaft bei Vertragsabschluss. Der Versicherungsnehmer muss der Versicherungsgesellschaft alle Informationen offen legen, welche die Gesellschaft braucht, um abschätzen zu können, ob das Versicherungsrisiko im entsprechenden Fall überhaupt getragen bzw. finanziert werden kann. Ist jemand beispielsweise krank und will noch eine Versicherung abschliessen, darf er diese Information der Versicherungsgesellschaft nicht vorenthalten. Die Anzeigepflicht dient der Versicherungsgesellschaft, um versicherte Risiken beurteilen zu können.

Konsumentenschützer kritisieren, dass sich die Gerichtspraxis zu stark an den Interessen derr Versicherungswirtschaft orientiere. Wird die Anzeigepflicht des Versicherungsnehmers denn nun gelockert?

Nein, aber die Konsequenzen sind neu sehr unterschiedlich. Nur noch bei absichtlicher oder grobfahrlässiger Anzeigepflichtverletzung erlischt der Vertrag. Hat der Versicherungsnehmer hingegen eine wesentliche Gefahrtatsache fahrlässig nicht richtig angezeigt, besteht seitens der Versicherungsgesellschaft lediglich ein Kündigungsrecht. Die Beweislast, dass eine solche absichtliche oder grobfahrlässige Anzeigepflichtverletzung vorliegt, liegt bei der Versicherungsgesellschaft. Das kann im Einzelfall sehr schwierig sein. Liegt lediglich eine fahrlässige Anzeigepflichtverletzung vor, ist die nächste Frage, ob die Versicherungsgesellschaft im Schadenfall zahlen muss oder nicht bzw. ob eine Versicherungsdeckung vorliegt oder nicht. Gemäss altem VVG besteht bei Anzeigepflichtverletzung keine Versicherungsdeckung. Neu besteht bei fahrlässiger Anzeigepflichtverletzung eine solche.

Die Privatversicherer monieren auch, dass dem Versicherungsmissbrauch ebenso wie den aus dem erhöhten Konsumentenschutz resultierenden Kosten im neuen Entwurf zu wenig Rechnung getragen werde.

Mit dem Ziel der Verbesserung des Konsumentenschutzes werden tatsächlich zusätzliche administrative Kosten verursacht, indem etwa die vorvertragliche Informationspflicht der Versicherungsgesellschaft massiv ausgeweitet wird. Neben den zusätzlichen administrativen Hürden sind einige Elemente des Entwurfs aus versicherungstechnischer Sicht viel problematischer. Die Einführung des Widerrufrechts des Versicherungsnehmers etwa stellt Versicherer vor neue Herausforderungen. Ein Versicherungsnehmer, der eine Versicherung abgeschlossen hat, kann diese bis anhin nicht widerrufen. Neu soll die Versicherung bis zu zwei Wochen nach Abschluss widerrufen werden können. Sobald ein Versicherungsvertrag abgeschlossen ist, werden die entsprechenden Daten vom System erfasst und der Vertrag wird abgewickelt. Diesen nach zwei Wochen zurückabzuwickeln, verursacht hohe administrative Kosten.

Ein weiterer Aspekt ist die Versicherungsdeckung. Innert dieser zwei Wochen geniesst der Versicherungsnehmer eine Versicherungsdeckung. Tritt in dieser Zeit ein Schadenfall ein, wird er den Vertrag kaum widerrufen und die Versicherungsprämie zahlen. Tritt kein Schadenfall ein, hat er die Möglichkeit, den Vertrag zu widerrufen. Dies ist ökonomisch betrachtet eine einseitige Lastenverteilung, die zu Kostensteigerungen führen wird. Das Gefährlichste im Versicherungsgeschäft ist, wenn der Versicherungsnehmer den Eintritt des versicherten Ereignisses bzw. den Eintritt der Deckung mitbestimmen kann.

Im Rahmen der Interessen- und Kostentransparenz soll künftig auch die Differenzierung zwischen Agent und Makler deutlicher ausfallen.

Viele vorgesehenen Anpassungen im neuen VVG geschehen sicherlich zu recht, weil die Realität, wie bereits erwähnt, sich stark verändert hat. Insbesondere was das Maklergeschäft anbelangt, muss man sich jedoch gut überlegen, wie man das künftig regeln will. Der Entwurf stützt sich auf die Bundesgerichtspraxis zu den Retrozessionen im Banken- bzw. Vermögensverwaltungsgeschäft. Der Vorschlag geht indessen sogar noch weiter und verlangt, dass sämtliche Kommissionen, die der Makler direkt und indirekt erhalten hat, an den Versicherungsnehmer weitergeleiten muss.

Wie gestaltet sich denn das Anstellungs- bzw. Auftragsverhältnis von Agent und Makler?

Ein Agent, der bei einer Versicherungsgesellschaft angestellt ist, darf in der Regel nur die Produkte verkaufen, die von der eigenen Versicherungsgesellschaft vertrieben werden. Der Kunde weiss das auch. Geht der Kunde aber zu einem Makler, neudeutsch Independent Financial Advisor, erwartet er, das für ihn beste Produkt zu erhalten. Das bezieht sich sowohl auf den Risikoschutz wie auch die Service-Qualität oder den Preis. Verkaufen Makler aber nur noch jene Produkte, für die sie die höchsten Kommissionen erhalten, läuft das Geschäft in eine falsche Richtung. Damit entsteht ein Interessenkonflikt, der nicht von der Hand zu weisen ist. Dass man Makler heute entsprechend in die Pflicht nimmt, verstehe ich gut. Dabei gilt es aber zu berücksichtigen, dass die Makler gemäss Versicherungsaufsichtsgesetzt bereits heute von der Finanzmarktaufsicht (FINMA) reguliert sind. Meines Erachtens verfügt die FINMA über die geeigneten Instrumente, um solche Interessenskonflikte zu vermeiden. Das VVG schiesst deshalb übers Ziel hinaus.

Letztlich ist es doch aber im Interesse des Kunden, mehr Transparenz darüber zu erhalten, welchen Anteil vom Preis er für die bezogene Leistung quasi an den Makler abliefern muss.

Hinsichtlich Transparenz sehe ich verschiedene Modelle. Die erste Variante ist, dass Kommissionen gänzlich verboten werden, der Makler also keine Vergütungen oder Kommissionen mehr von der Versicherungsgesellschaft annehmen darf. Die zweite Variante ist, dass der Makler Kommissionen zwar annehmen darf, dem Versicherungsnehmer aber darlegen muss, für welche Offerte er wie viel Kommission erhält. Dies käme einer vollen Transparenz gleich. Die dritte Variante ist eine eingeschränkte Transparenz, wo der Kunde nur einsehen kann, wie viel der Makler tatsächlich an Kommissionen erhalten hat, ohne zu wissen, wie viel er für andere Offerten erhalten hätte. Die vierte Variante ist, alles beim alten zu belassen, womit der Kunde nicht sieht, was der Makler erhält. Transparenz zu schaffen, wäre wohl richtig. Ich finde es aber falsch, Kommissionen völlig zu verbieten. Eine solche Regelung würde den Maklerkanal gegenüber den gebundenen Agenten unnötigerweise benachteiligen. Makler erfüllen in der Versicherungswirtschaft eine wichtige Funktion zur Sicherstellung der Qualität der Dienstleistung am Kunden. Das geht immer wieder vergessen.

Wieso sind Makler für die Dienstleistungsqualität so wichtig?

Die wirklich grossen Versicherungsvolumen liegen nicht im Geschäft mit Privatkunden, sondern im Firmenkundengeschäft. Firmen haben in der Regel spezialisierte Makler, die sie betreuen. Das gilt nicht nur für den Vertragsabschluss, sondern vor allem auch für die Lebensdauer eines Versicherungsvertrags. Je nachdem, wie das Dienstleistungspaket der Versicherungsgesellschaft für den Kunden aussieht, kann das mehr oder weniger kosten. Nehmen wir das Beispiel einer Reederei, die 40 Kreuzfahrtschiffe unterhält und eine Haftpflichtversicherung braucht. Solche Versicherungsgeschäfte sind typische Maklergeschäfte. Dazu braucht ein Makler das entsprechende Know-how, um das Versicherungsrisiko abschätzen und beurteilen zu können, welche Versicherungslösung bei welcher Versicherungsgesellschaft für den Kunden die beste ist. Hinzu kommen mögliche Änderungen für die Deckung, je nachdem, wie sich Technologien, das Unternehmen oder auch das Verhalten von Verantwortlichen entwickeln. Das sind hoch komplexe Versicherungsverträge, die betreut werden müssen. Entsprechend spezialisiert sind die Makler für gewisse Branchen. Als Bindeglied sind sie das Know-how des Versicherungsnehmers und der Versicherungsgesellschaft.

Sind Makler dann vor allem im Nichtleben-Geschäft wichtig?

Durchaus nicht! Auch das BVG bzw. die berufliche Vorsorge ist ein typisches Maklergeschäft. Gerade das BVG-Geschäft ist sehr komplex und stark branchenabhängig. Für einen Versicherungsnehmer macht es einen grossen Unterschied, ob er ein Baugeschäft oder ein Dienstleistungsunternehmen betreibt, für das er eine BVG-Deckung braucht. Bauunternehmer haben ein anderes Risikoprofil für ihre Angestellten als ein Dienstleistungsunternehmen. Der Makler muss die Interessen und die Risiken des Kunden bei Eintritt in Vertragsverhandlungen mit einer Versicherungsgesellschaft kennen. Durch diesen Wissensvorsprung kann er für seinen Mandanten einen besseren Preis erzielen.

Der Makler-Kanal im BVG-Geschäft ist demnach sehr gross.

Dieser Makler-Kanal ist sehr gross. Das begründet sich insbesondere mit der Komplexität der und Breite der BVG-Palette. Diese reicht von Versicherungsmodellen wie der Vollautonomie über die Teilautonomie bis hin zum Vollversicherungsvertrag. Jedes dieser Modelle weist wesentliche Unterschiede auf und birgt Chancen und Risiken zusammen mit den entsprechenden finanziellen Konsequenzen für den Kunden. Welches Modell für ein Unternehmen das passendste ist, weiss der Makler nach Klärung der Bedürfnisse des Kunden zu beantworten.

Woher kommen alle diese Makler? Ist das ein eigenständiger Beruf?

Das ist ein Beruf den man erlernen kann. Als unabhängiger Makler ist man von der FINMA beaufsichtigt. Man muss sich entsprechend ausbilden, eine Berufsprüfung abschliessen und eine Lizenz lösen – sprich, man braucht eine Zulassung. Das Versicherungsaufsichtsgesetz regelt das ganz genau.

Gemäss Ihren Ausführungen reden die Experten vom Bund, welche den Entwurf zum neuen VVG ausgearbeitet haben, und die Vertreter der Privatwirtschaft aneinander vorbei. Woher rühren diese unterschiedlichen Auffassungen?

Wie zuvor erwähnt, gibt es viel nachzuholen, da das VVG über 100 Jahre lang nicht angepasst worden ist. Dabei setzt jede Interessengruppe ihre Prioritäten – und die sind unterschiedlich. Je mehr Gruppierungen und Partikularinteressen in einer Diskussion vertreten sind, desto schwieriger ist es, einen Konsens zu finden.

Kritikpunkt ist auch, dass der neue Entwurf des VVG bereits wieder veraltet sei, da er den modernen Technologien keine Rechnung trage.

Das stimmt. Der Entwurf adressiert die heutigen Technologien wie Social Media oder gewisse Internet Distributionskanäle nicht. Ich hatte erst kürzlich eine Autopanne, wonach ich einfach einen Knopf in meinem iPhone betätigt habe und schon kam der Pannendienst. Das ist ein Service, den Versicherungsgesellschaften heute teilweise via Applikationen bzw. App‘s anbieten. Sie richten sich damit an die so genannte Zukunftsgeneration „Z“. Angehörige dieser Generation gehen vielleicht nicht mehr zum Makler oder zum Agenten, sondern gelangen über ihr SmartPhone an die Versicherungsgesellschaften, wobei der Zahlungsverkehr über Interbanking abgewickelt wird. So schliesst diese Generation Verträge ab, egal ob das ein Versicherungs-, Banken oder Kreditkartenvertrag ist. Für Versicherungsgesellschaften hat das weitreichende Implikationen, etwa wenn es um die vorvertraglichen Informationspflichten oder um Anzeigepflichtverletzungen geht.

Wieso hat man diese Elemente des E-Commerce im Entwurf des neuen VVG ausgelassen?

Dieser Gesetzesentwurf ist schon etwas länger in der Pipeline. Die heutigen Technologien entwickeln sich rasend schnell. Vor einigen Jahren wusste noch niemand, was eine App ist. Tatsächlich ist zu beobachten, dass die Gesetzgebungsmaschinerie bei vielen Vorlagen noch nicht bei der Generation „Z“ angekommen ist. Der vorliegende Entwurf wird in den Ratssälen und in der Wandelhalle noch einigen Diskussionsstoff liefern. Wie das finale Produkt aussehen wird, steht heute noch völlig in den Sternen – wir können auf die Diskussionen gespannt sein!

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