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«Die aktuelle Vorlage geht kleine Schritte voran und ist ausbalanciert»

Montag, 14.08.2017

Auch für die Jungen ist die Rente todsicher, sagt ein bekannter Schweizer Ökonom. Wenn Nachfinanzierungen nötig seien, würden sie in kleinen Schritten angenommen. Auch die jetzige Vorlage gehe behutsam vor. Und 2030 schaue man dann weiter.

Das Schweizer Volk stimmt am 24. September 2017 über die Reformvorlage «Altersvorsorge 2020» ab. Gegner wie Befürworter argumentieren hart. Dabei geht es im Wesentlichen um sechs Punkte: (1) Das Rentenalter der Frauen soll ab 2018 um 3 Monate pro Jahr von heute 64 auf 65 Jahre angehoben werden. (2) Die Pensionierung soll flexibilisiert werden und neu zwischen 62 und 70 Jahren möglich sein, wobei mehr bzw. weniger Arbeitsjahre die Rente erhöhen bzw. kürzen. (3) Der Umwandlungssatz im BVG-Obligatorium, mit dem das angesparte Kapital in eine Rente umgewandelt wird, soll bis 2021 von heute 6.8% schrittweise auf 6.0% gesenkt werden. (4) Als Kompensation sollen die AHV-Renten für Neurentner ab 2019 um monatlich 70 Franken angehoben werden. Der Plafond für Ehepaare wird damit von 150% auf 155% erhöht. (5) Dafür würden die AHV-Lohnabzüge um 0.3 Prozentpunkte erhöht. (6) Ausserdem soll die Mehrwertsteuer in zwei Schritten um 0.6% erhöht werden. Ab 2018 würden 0.3 MwSt-Prozente, die aktuell für die Invalidenversicherung bestimmt sind, in die AHV fliessen. Am 1. Januar 2021 soll die Mehrwertsteuer zugunsten der AHV um 0.3% erhöht werden.

Auch für die Jungen ist die Rente sicher

Die junge Generation ist angesichts der sich leerenden Kassen verunsichert, ob sie selbst eines Tages noch Rente beziehen können wird. Doch Rudolf Strahm, Ökonom und Politiker (Sozialdemokratische Partei) beruhigt: «Auch für die Jungen ist die Rente todsicher», wie er in einem Interview gegenüber «swissinfo.ch» äussert. Das System sei seit nunmehr 70 Jahren stabil. Anpassungen seien möglich, aber es gebe nie einen Abbau. Die fast zwei Millionen Rentner könnten in einer Volksabstimmung einen Abbau verhindern. Wenn Nachfinanzierungen nötig seien, würden sie in kleinen Schritten angenommen. Auch die jetzige Vorlage gehe behutsam vor. Und 2030 schaue man dann weiter – das sei das schweizerische System.

Verlustzone der AHV wurde bereits für 2005 prognostiziert

Auf die Generationengerechtigkeit angesichts einer alternden Bevölkerung angesprochen, sagt Strahm, dass diese Entwicklung bereits in den 1990er-Jahren vorausgesagt worden sei. Das Rechnungsmodell des Bundes habe 1995 die Defizite der AHV bereits für 2005 vorausgesagt. Ein solches sei aber immer wieder hinausgeschoben worden wegen der Lohnsummenentwicklung: Wenn die Lohnsumme steige, würden auch die Einnahmen steigen. Wobei 1999 ohne grosses Getöse in aller Stille ein für die AHV zweckgebundenes Mehrwertsteuerprozent eingeführt worden sei. Das habe die Verlustzone massiv hinausgezögert. Auch glaubt er nicht, dass das System des Generationenvertrags nach 2030 kollabieren wird.

Streit um Vorlage ist Frage ob staatliche oder halbprivatwirtschaftliche Lösung besser ist

Dennoch sieht auch Strahm Handlungsbedarf zur Finanzierung des Systems: Wenn man jetzt in der Schweiz einen Streit habe um die Vorlage, so sei das nicht mehr ein Streit, ob man etwas tun müsse, um das System stabil zu halten und die Renten zu sichern. Jetzt gehe es «um die Kröten, die geschluckt werden müssten». Und wiederum um den alten ideologischen Konflikt, ob eine staatliche oder eine halbprivatwirtschaftliche Lösung besser sei.

Im Tiefzinsumfeld ist die 2. Säule teurer

Rudolf Strahm wird laut swissinfo.ch vorgeworfen, er würde die zweite Säule schlechtreden. Das bestreitet Strahm entschieden. Die zweite Säule gehöre zum Dreisäulen-System und sie werde von niemandem und auch von ihm nicht in Frage gestellt. Das Kapitaldeckungsverfahren habe langfristig eine bessere Stabilität in Bezug auf die demographische Entwicklung. Im heutigen Tiefzinsumfeld aber sei die zweite Säule teurer.

2015 habe die zweite Säule zwar 5,8 Milliarden Franken Zinserträge generiert; im gleichen Jahr aber seien 3,8 Milliarden Franken für die Vermögensverwaltung plus noch 0,9 Milliarden Franken für die Verwaltung der Kassen ausgegeben worden. Jeder siebte Rentenfranken versickere in der Vermögens- und Kassenverwaltung. Das seien Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Wer im heutigen Tiefzinsumfeld 1’000 Franken Altersrente generieren wolle, müsse in der zweiten Säule mehr einbezahlen als in die AHV. Das sei auch der politische Hintergrund, wieso die Debatte zwischen erster und zweiter Säule wieder neu entfacht sei, sagt Strahm.

Untergangsszenarien waren immer falsch

Für Banker und Vermögensverwalter sei die AHV kein geliebtes Kind, so Strahm weiter, da es sich um ein staatliches Umlageverfahren handle. Die Privatassekuranz habe natürlich immer das individuelle Alterssparen, die dritte Säule, fördern wollen. Ebenso die zweite Säule, eine Kapitaläufnung in einer Pensionskasse während des Berufslebens.

Die Linke umgekehrt habe die zweite Säule verteufelt. Doch das Drei-Säulen-Prinzip sei in den 1970er- und 1980er-Jahren politisch und ökonomisch verankert worden und lasse sich nicht so schnell umkrempeln. Jedes Mal, wenn es eine Ausmarchung über die Verteilung zwischen erster, zweiter und dritter Säule gegeben habe, seien Krisen- und sogar Untergangsszenarien hochgefahren worden, die sich immer als falsch herausgestellt hätten. 

45-64-Jährige profitieren am meisten von der Reform

Als Profiteure der Vorsorgereform sieht Strahm am ehesten die heute 45-64-Jährigen. Diese Übergangsgeneration würde bei einem Ja bald ein wenig mehr AHV-Rente erhalten, die Kürzung der zweiten Säule trete aber erst später ein. Wer heute pensioniert sei oder bis 2018 pensioniert werde, habe nichts zu verlieren, gewinne aber auch nichts.

Für die unter 40-Jährigen sei es nicht voraussagbar. Was im nächsten Vierteljahrhundert hinsichtlich Wirtschaftswachstum, Zuwanderung, Geburtenrate oder mit einer Mehrwertsteuer-Erhöhung geschehe, wisse niemand. Er gehe aber davon aus, dass die AHV nach 2030 nochmals mit einem zusätzlichen Mehrwertsteuerprozent finanziert werden müsse. Er befürworte eine Erhöhung der Mehrwertsteuerer statt der Lohnprozente, weil so auch gut situierte Rentnerinnen und Rentner zahlen müssten.

Mittlere Unzufriedenheit lässt rationalen Kompromiss zu

Trotz aller Argumente für- bzw. gegen die Vorlage gibt Strahm ihr am 24. September eine grosse Chance. In der Schweiz herrsche eine mittlere Unzufriedenheit vor, mit der ein rationaler Kompromiss jetzt Akzeptanz finde. Abstimmungen über die Altersrente seien immer sehr emotionale Abstimmungen gewesen. Daran erinnerten sich die Schweizerinnen und Schweizer. Es sei viele Male nicht gelungen, die Altersrente zu reformieren. Jetzt scheine ein Ermüdungs-Ja möglich zu sein. Im Sinne von: Zuletzt raufe man sich halt für einen Kompromiss zusammen.

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