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Der Bundesrat will dem Sozialversicherungsbetrug einen Riegel schieben

Mittwoch, 22.02.2017

Mit einer Revision des Sozialversicherungsrechts und einer Verbesserung der gesetzlichen Grundlage will der Bundesrat den Sozialversicherungsmissbrauch eindämmen. Die Sozialversicherungen haben ihre Bemühungen bereits verstärkt.

Den missbräuchlichen Bezug von Sozialversicherungsleistungen zu verhindern, etwa durch die Observation von Bezügern, ist in der Schweiz bis anhin schwierig. Denn die gesetzliche Grundlage dazu ist ungenügend, wie schon der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Oktober 2016 feststellte. Mit einer Revision des Bundesgesetzes über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) will der Bundesrat dies ändern. Er hat eine entsprechende Vorlage in die Vernehmlassung geschickt.

Observierung wird klar geregelt

Ein neuer Gesetzesartikel soll den Versicherungen ermöglichen, Personen verdeckt zu observieren, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass sie Leistungen zu Unrecht beziehen oder zu beziehen versuchen. So sollen Sozialversicherungen bei Verdacht auf Missbrauch Detektive einsetzen dürfen. Die versicherte Person darf nach dem Willen des Bundesrates jedoch nur dann observiert werden, wenn sie sich an einem allgemein zugängliche Ort befindet oder an einem Ort, der von einem solchen aus frei einsehbar ist. Eine Observation darf höchstens an 20 Tagen innerhalb von drei Monaten stattfinden.

Im Fall, den die Strassburger Richter zu beurteilen hatten, liess die Unfallversicherung eine Frau, die sich gegen eine Überprüfung ihres Gesundheitszustands gewehrt hatte, vier Tage lang durch Privatdetektive überwachen. Die Bildaufnahmen, die daraus entstanden, belegten, dass die Coiffeuse, die infolge eines Verkehrsunfalls angeblich arbeitsunfähig war, gesundheitlich deutlich besser dran war, als ihr vormals medizinisch attestiert worden war.

Gemäss der revidierten Gesetzesvorlage kann die Versicherung zwar Spezialisten mit der Observation beauftragen. Spätestens bevor sie aber eine Verfügung über die Leistung erlässt, muss sie die betroffene Person über die erfolgte Observation informieren. Die Aufbewahrung und Vernichtung des Observationsmaterials will der Bundesrat regeln.

Flüchtige erhalten keine Leistungen mehr

Der Bundesrat will zudem sicherstellen, dass verurteilte Personen, die sich dem Straf- oder Massnahmenvollzug entziehen, keine Leistungen erhalten. Künftig sollen Geldleistungen in solchen Fällen sistiert werden können.

Heute dürfen Zahlungen erst eingestellt werden, wenn sich die Person im Vollzug befindet. Das Bundesgericht gab einem IV-Rentner Recht, der ins Ausland geflohen war, um sich dem Strafvollzug zu entziehen. Das Bundesverwaltungsgericht durfte seine Rente nicht sistieren.

Leistungen können vorsorglich eingestellt werden

Auch die Versicherungen sollen die Ausbezahlung von Leistungen vorsorglich einstellen können, wenn jemand die Meldepflicht verletzt hat, einer Kontrolle nicht fristgerecht nachgekommen ist oder der begründete Verdacht auf Missbrauch besteht. Die Versicherungen stellen schon heute Leistungen vorsorglich ein, doch beurteilen die Gerichte die Zulässigkeit dieser Massnahme unterschiedlich.

Hat eine versicherte Person mit wissentlich unwahren Angaben eine Versicherungsleistung erwirkt oder zu erwirken versucht, soll ihr die Versicherung künftig die Mehrkosten auferlegen können, die ihr durch den Beizug von Spezialisten entstanden sind.

Kostenpflicht wird neu geregelt

Neu geregelt wird auch die Kostepflicht in kantonalen sozialversicherungsrechtlichen Gerichtsverfahren. Sozialversicherungen, die dem ATSG unterstehen, wird es dadurch möglich, den Parteien Gerichtskosten für Beschwerdeverfahren aufzuerlegen. Bisher war dies einzig im Bereich der IV möglich. Der Bundesrat gibt dazu zwei Varianten in die Vernehmlassung. Beide sehen eine Kostenpflicht für Beitragsstreitigkeiten vor.

Bezüglich Leistungsstreitigkeiten schlägt der Bundesrat mit Variante 1 eine Lösung vor, die den Eigenheiten der einzelnen Versicherungen Rechnung trägt. Die Details werden in den Spezialgesetzen geregelt.

Zweite Variante trägt den sozial Schwächeren Rechnung

Variante 2 sieht für die Leistungsstreitigkeiten einen fixen Kostenrahmen von 200 bis 1‘000 Franken vor. Sind allerdings die Voraussetzungen der unentgeltlichen Rechtspflege erfüllt, bleibt das Beschwerdeverfahren für die Betroffenen kostenlos.

Das Parlament hatte einer Motion zugestimmt, welche die Kostenpflicht für sämtliche Verfahren vor den kantonalen Sozialversicherungsgerichten vorsieht. Eine Umfrage bei den kantonalen Sozialversicherungsgerichten zeigte gemäss dem Bericht des Bundesrates jedoch, dass die Mehrheit der Gerichte gegen eine generelle Einführung einer Kostenpflicht ist.

Schweizer- und EU-System sollen besser koordiniert werden

Die Systeme der sozialen Sicherheit der Schweiz und der EU sollen mit dieser Revision besser koordiniert werden, etwa mit Bestimmungen zum elektronischen Datenaustausch. Schliesslich soll auch die bisherige Praxis, nach welcher die Sozialversicherungsabkommen nicht dem fakultativen Referendum unterstehen, ausdrücklich im ATSG geregelt werden.

Rund ein Viertel der Verdachtsfälle bei der IV haben sich bestätigt

Im Jahr 2015 hat die IV in 1900 Fällen Ermittlungen wegen Verdachts auf Versicherungsmissbrauch aufgenommen und insgesamt 1940 Ermittlungen abgeschlossen. Dabei bestätigte sich der Verdacht in 540 Fällen. Daraus resultierten Einsparungen von rund 154 Millionen Franken, bei Kosten von rund 8 Millionen pro Jahr, wie einem Bericht des Bundesamts für Sozialversicherungen (BSV) zu entnehmen ist. Die Betrugsbekämpfung sei aber längst nicht mehr nur ein Thema der IV, schreibt der Bundesrat. Auch die anderen Sozialversicherungen hätten ihre Bemühungen verstärkt.

Über das ATSG

Das Bundesgesetz über den Allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrechts (ATSG) enthält Regelungen, die grundsätzlich für alle Sozialversicherungszweige gelten, mit Ausnahme der beruflichen Vorsorge.

Seit seinem Inkrafttreten am 6. Oktober 2000 ist es mehrfach punktuell, jedoch noch nie umfassend revidiert worden. In den letzten Jahren haben sich die Revisionsanliegen aus Parlament (Mo Lustenberger 12.3753, Mo Schwaller 13.3990, Mo SVP-Fraktion 09.3406), Rechtsprechung, Vollzug und Wissenschaft derart summiert, dass der Bundesrat eine erste eigenständige ATSG-Revision für notwendig erachtet hat.

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