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«Das Weltbild der 1970er Jahre prägt nach wie vor die Gesetzgebung der Schweizer Altersvorsorge»

Freitag, 27.01.2017

Die Reform Altersvorsorge 2020, die sowohl die AHV als auch die berufliche Vorsorge gleichzeitig angeht, orientiert sich zu wenig am erfolgten Wandel der Gesellschaft und der Erwerbsarbeit. Dies führt zu Ungleichbehandlungen, sagt Avenir Suisse.

Die laufende Reform der Altersvorsorge 2020 rankt sich um die Fragen, ob das gesamte Rentenniveau gehalten werden soll und wenn ja, wie dieses Niveau finanziert werden kann. Laut Jérôme Cosandey von Avenir Suisse sind diese Fragen wichtig und dringend, wolle man eine Verschuldungsspirale in der AHV und die systemwidrigen Umverteilungen zwischen Jung und Alt in der beruflichen Vorsorge vermeiden. Es sei deshalb richtig, dass die Politik diese Punkte in erster Priorität kläre.

Gesellschaft hat sich stark gewandelt

Die Gesellschaft habe sich in den letzten Jahrzehnten jedoch stark gewandelt. Die Lebensläufe der Menschen seien unberechenbarer und pluralistischer geworden; insbesondere die Rollen von Frauen und Männern in der Familie und im Erwerbsleben hätten sich verändert. Im Vorsorgesystem allerdings schlage sich das kaum nieder. Daraus würden Ungleichbehandlungen entstehen, die sich immer weniger rechtfertigen liessen, wie Cosandey gegenüber der Zeitschrift «Schweizer Monat» äussert.

Veraltete Rollenmodelle prägen die Sozialversicherungen

Das Dreisäulenkonzept ist 1972 an der Urne vom Volk abgesegnet worden. Das Gesetz für eine obligatorische berufliche Vorsorge (BVG) ist dann 1983 im Parlament verabschiedet worden. «Das Weltbild von damals prägt nach wie vor die Gesetzgebung der Schweizer Altersvorsorge», so Cosandey weiter. Zwar hätten die letzte Revision der AHV 1995 und diejenige der zweiten Säule 2003 punktuelle Modernisierungen der Sozialwerke gebracht. Diese lägen aber unterdessen 21 beziehungsweise 13 Jahre zurück.

Ende der 1970er Jahre sei die Ehe bis zum Tod der Ehegatten noch das dominierende gesellschaftliche Modell gewesen. Mit der Ehe sei auch die Rollenverteilung zwischen Mann und Frau klar gewesen. Spätestens bei der Geburt des ersten Kindes habe sich die Frau aus dem Erwerbsleben zurückgezogen (man habe ihr sogar ihre Freizügigkeitsleistung aus der zweiten Säule ausbezahlt) und sich ganz dem Nachwuchs und dem Haushalt gewidmet. Der Mann habe sich auf die bezahlte Arbeit konzentriert und sich angestrengt, um den Einkommensverlust der Ehefrau zu kompensieren.

Die Witwenleistungen der AHV würden dieses Bild nach wie vor spiegeln, kritisiert Cosandey. Sie sollten für den Einkommensverlust beim Tod des Ehemanns aufkommen – unabhängig davon, ob die Witwe Kinder im schulpflichtigen Alter habe oder nicht. Für Männer sei der Zugang zu Witwerleistungen viel selektiver geregelt. Entsprechend seien 2014 rund 98% der Witwen- und Witwerrenten an Frauen ausbezahlt worden. Der Schutz des Lebenspartners oder der Lebenspartnerin, zum Beispiel in Patchwork-Familien, sei hingegen durch die AHV nicht gesichert. In der 2. Säule grundsätzlich auch nicht, selbst wenn immer mehr Pensionskassen Witwenleistungen für Lebenspartner anböten.

Altersvorsorge sollte unabhängig von Ehestatus und Rollenverteilung gestaltet werden

Eingetragene Partnerschaften sind im Sozialversicherungsrecht immerhin seit 2004 einer Ehe gleichgestellt. Umgekehrt erhalten nicht verheiratete Paare bei der Pensionierung zwei volle einzelne AHV-Renten, während die Pension von Ehepaaren auf maximal 150% einer Einzelrente plafoniert ist. Die Altersvorsorge sollte künftig unabhängig vom Ehestatus und von der geschlechterspezifischen Rollenverteilung gestaltet werden.

Teilzeitarbeit wird zur Regel

Die traditionelle Rollenverteilung zwischen Ehegatten ist laut Cosandey zwar nach wie vor anzutreffen. Immer öfter blieben die Mütter jedoch erwerbstätig, wenn auch meistens im Teilzeitpensum. Auch bei Männern nehme die Teilzeitarbeit zu. Zudem steige die Anzahl Personen, die zwar insgesamt 100% arbeiten, jedoch Teilzeitstellen bei mehreren Arbeitgebern kumulieren würden. 2016 seien es über 340 000 Personen gewesen, doppelt so viele wie noch vor 20 Jahren. Teilzeitarbeit werde jedoch in der beruflichen Vorsorge bestraft, weil nur der Lohn oberhalb vom sogenannten Koordinationsabzug von 24 675 Franken pro Jahr der BVG-Pflicht unterstellt sei. Und zwar unabhängig vom Beschäftigungsgrad.

Der Koordinationsabzug sei bei der Einführung des BVG geschaffen worden, um eine Überversicherung bei Mitarbeitenden mit kleinen Einkommen zu vermeiden, weil die AHV für sie bereits einen hohen Anteil des Lohnes ersetzt habe. Für Arbeitnehmende mit höheren Einkommen und 100% Anstellungsgrad habe diese Regelung kaum eine Rolle gespielt. Das sei früher weniger ins Gewicht gefallen. Heute aber, wo die Schweiz 1,7 Millionen Teilzeitangestellte zähle (verglichen mit einer Million 1986), räche sich diese Regelung.

Wer Teilzeit arbeitet, spart weniger in der beruflichen Vorsorge

Wer Teilzeit arbeite, darunter vor allem Frauen, oder ein volles Pensum auf mehrere Arbeitgeber verteile, spare weniger in der beruflichen Vorsorge. Die finanzielle Sicherheit im Alter werde dadurch tangiert, mahnt Cosandey. Würde man heute diesen Koordinationsabzug meiden, könne man das Vorsorgesystem auf der grünen Wiese neu skizzieren. Auch jetzt, im Rahmen der Altersvorsorgereform, setze sich der Nationalrat dafür ein, diesen Abzug zu streichen – unter anderem, um für die Versicherten die Einkommensausfälle bei einer Senkung des Umwandlungssatzes von 6.8% auf 6.0% wettzumachen.

Pluralisierung des Arbeitslebens wirft neue Fragen auf

Weitere offene Fragen bringe die grundsätzliche Pluralisierung des Arbeitslebens mit sich. Mit der Globalisierung und dem Wunsch nach mehr Flexibilität sowohl seitens der Arbeitgebenden als auch der Arbeitnehmenden werde die Bedeutung der selbständigen Arbeit im Mandatsverhältnis zunehmen.

Immer mehr Leute seien Teilzeit angestellt und würden daneben als Freelancer einem Nebenerwerb nachgehen, zum Beispiel als technischer Berater, Projektmitarbeiter oder Uber-Fahrer. Selbständig Erwerbende seien allerdings bislang von der BVG-Pflicht befreit. Dahinter stecke die Idee aus den 1980er Jahren, dass Unternehmer in ihre Firma Kapital für Maschinen und Gebäude investierten, die sie bei der Pensionierung wieder verkaufen und den Erlös für die Vorsorge einsetzen könnten.

Freelancer könnten im Alter verarmen

Mit der zunehmenden Bedeutung des Dienstleistungssektors sei das Vermögen einer Firma jedoch immer mehr das «Humankapital». Dies lasse sich schlecht veräussern, insbesondere wenn eine Firma vor allem aus dem Inhaber und wenigen Mitarbeitenden bestehe (2014 beschäftigten 400 000 Firmen im Dienstleistungssektor weniger als 9 Mitarbeitende). Darum bestehe zunehmend die Gefahr einer Verarmung dieser Freelancer im Alter und damit steigender Ausgaben für Ergänzungsleistungen, warnt Cosandey. Ein besserer Vorsorgeschutz für solche Unternehmer, eventuell eine obligatorische BVG-Unterstellung für alle Erwerbstätigen, unabhängig von ihrem Anstellungsverhältnis, sollte deshalb geprüft werden.

Politiker haben wichtige gesellschaftliche Veränderungen aus den Augen verloren

Diese Beispiele würden zeigen, dass sich die Politik in den letzten Jahrzehnten mit Finanzierungsproblemen der Altersvorsorge (Stichwort Rentenalter und Umwandlungssatz) in Grabenkämpfen festgefahren habe. Dabei hätten die Politiker wichtige gesellschaftliche Veränderungen und ihre Implikationen für die Altersvorsorge aus den Augen verloren. Nach der hoffentlich erfolgreichen Reform Altersvorsorge 2020 im nächsten Jahr werde sich die Politik unvermeidlich dieser Themen annehmen müssen. Somit sei nach der Reform vor der Reform.

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