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«Das Finanzsystem steckt in der Krise»

Montag, 18.07.2016

Nach der Brexit-Abstimmung haben viele Analysten die Gewinnschätzungen für europäische Banken nach unten revidiert. Der Markt befürchtet eine neue Finanzkrise. Zu Recht, wie manche Beobachter sagen.

Im Nachgang zum Brexit haben viele Bankentitel an Wert verloren. Das schafft nicht nur den Bankaktionären Probleme, sondern kann weitere Konsequenzen für die Wirtschaft haben. «Fällt die Marktbewertung einer Bank weit unter den Buchwert, ist das ein Zeichen des Misstrauens und kann auf andere wirtschaftliche Bereiche überschwappen», sagt Thomas Mayer, ehemaliger Chefökonom der Deutschen Bank und Gründungsdirektor vom „Flossbach von Storch Research Institute“ in einem Interview mit der «Handelszeitung». Es könnte zu einem Bank Run kommen.

Bankenpolitik ist in sich inkonsistent

Nach der Finanzkrise habe man sich drei Ziele gesetzt, erklärt Mayer. Regulatoren hätten höhere Kapitalquoten durchsetzen wollen, Steuerzahler hätten aus der Haftung genommen und stattdessen Bankgläubiger und Aktionäre im Krisenfall zur Kasse gebeten werden sollen, und drittens habe man mit tiefen und sogar negativen Zinsen eine Kreditausweitung herbeiführen wollen, um das Wachstum zu fördern. Wie sich jetzt zeige, seien diese drei Ziele in sich inkonsistent.

Banken haben Mühe neues Kapital aufzunehmen

Nehme man die Aktionäre stärker in die Pflicht, seien diese mit grösseren Risiken konfrontiert. Um die Risiken zu kompensieren, müssten höhere Gewinne her. Liessen sich diese nicht erwirtschaften, verlören Bankaktien an Wert, was es den Banken wiederum erschwere, neues Kapital aufzunehmen.

Banken können ihre Kapitalquote nur mittels Bilanzverkürzungen erhöhen

Banken könnten ihre Kapitalquoten deshalb nur mittels Bilanzverkürzungen erhöhen, indem sie Kredite zurückfahren würden. Gerade dies wollten die Zentralbanken mit Null- und Negativzinsen eigentlich verhindern.

Widersprüche zehren die Banken innerlich aus

In der Praxis bewirkten die Nullzinsen aber, dass die Zinsmarge sinke, aus der Banken ihren Profit schöpften – was die Banken wiederum dazu verleite, höhere Risiken bei der Kreditvergabe einzugehen. Insgesamt zehrten diese Widersprüche die Banken innerlich aus. Ihre Gewinne würden sinken, die Bilanzen würden schlechter, so Mayer.

Stresstests für die Banken sind trügerisch

Nach der Finanzkrise wurden für die Banken Stresstests eingeführt. Die Aufsicht habe 2014 grünes Licht für die Banken der Eurozone gegeben. Doch nun gebe es wieder eine Bankenkrise in Italien, so Mayer. «Die Behörden täuschen Wissen vor, das sie nicht haben», kritisiert er. Solche Tests seien trügerisch. Problematisch sei auch, dass bei der Europäischen Zentralbank (EZB) nun Geldpolitik und Bankenaufsicht unter einem Dach vereint seien. Fehlentscheide einer Abteilung färbten auf die andere Abteilung ab. Mehr noch: Die Lösung mit Tiefzinsen sei ein Trugschluss gewesen, sagt Mayer, denn Inflation und Wachstum seien ausgeblieben und den Banken gehe es schlecht: «Eine weitere Bankenkrise steht bevor»!

Banken haben ein gefährliches Geschäftsmodell

Banken haben laut Mayer ein gefährliches Geschäftsmodell: Sie lebten davon, durch Kreditvergabe Schulden zu machen, die sie Geld nennen würden. Stecke die Realwirtschaft im Schlamassel, würden die Kredite schlecht und die Banken überschuldet. Dabei seien Grossbanken genauso aktiv im Kreditbusiness wie Hypothekenbanken. So sei Lehman Brothers Konkurs gegangen, weil sich die verbrieften Kredite in ihrer Bilanz als weniger wertvoll erwiesen hätten als angenommen worden sei.

Auch Staatsanleihen sind verbriefte Kredite

Auch eine simple Staatsanleihe ist ein verbriefter Kredit, wie Mayer betont. Fast ein Drittel von Italiens Schulden würden die dortigen Banken halten. Diese Papiere könnten genauso wie US-Hypotheken schlecht werden und eine Bankenkrise auslösen.

Italien ist nur die Spitze des Eisbergs

In Italien sei die Bankensanierung verschleppt worden, obwohl die Wirtschaft seit Jahren nicht wachse, kritisiert Mayer. Italien sei aber nur die Spitze des Eisbergs. Banken in ganz Europa würden durch niedrige Zinsen und schwaches nominales Wachstum zersetzt. Auch Deutschland leide daran. Schon 2017 würden viele dortige Banken wegen der niedrigen Kreditzinsen nicht mehr genug Gewinn erzielen, um ihre Kosten zu decken. «Ein paar solche Jahre und dann herrschen italienische Verhältnisse».

EZB ertränkt alle Probleme in Liquidität

Momentan ertränke die EZB alle Probleme in Liquidität, sagt Mayer. Das werde jedoch nicht mehr gehen, wenn die Menschen das Vertrauen ins Geld verlören. Dann gebe es plötzlich nicht mehr zu wenig, sondern zu viel Inflation. «Der Prozess ist nicht linear; man verliert nicht 2% Vertrauen pro Jahr. Vertrauen existiert – oder eben nicht».

Partnerschaft zwischen Banken und Staaten funktioniert nicht mehr

Staatshilfen würden gemäss Mayer nur kurzfristig helfen. Denn die Partnerschaft zwischen Banken und Staaten funktioniere nicht mehr. «Gewinne werden privatisiert, Boni kassiert, Verluste sozialisiert. Der Steuerzahler wird trotz allen gegenteiligen Versprechen in der Krise immer in die Pflicht genommen», so sein Fazit. Die eigentliche Lehre aus der Finanzkrise hätte sein müssen, das Geldsystem zu reformieren.

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